Wie man Frohe Weihnachten verkauft

Cover der Kurzgeschichte Wie man Frohe Weihnachten verkauft

Skeptisch betrachtete Holly die von Autoabgasen nachgedunkelte Fassade des Hauses vor ihr. Die Bude sah ziemlich schäbig aus, fand sie, so gar nicht wie der Sitz eines seriösen Unternehmens. Eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, viel Lärm, neben der Haustür stapelten sich Säcke mit Verpackungsmüll, der auf die Abfuhr wartete. Aber es war kein Irrtum, Holly warf noch mal einen Blick auf die Unterlagen, sie war richtig.

 

Letzte Zweifel räumte das kleine Schild aus, das zwischen anderen von innen an die Glasscheibe der Eingangstür geklebt worden war: Schmitz & Kolke Make you(r) call GmbH. Ein einfacher Computer-Ausdruck auf einem weißen DIN-A4-Zettel in einer Klarsichthülle.

 

Holly gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Ihre Geduld wurde auf die Probe gestellt, es dauerte fast eine Minute, bis ein Knacken zu hören war in der Gegensprechanlage, die auch schon etliche Jahre auf dem Buckel haben musste. „Ja?“ Besonders freundlich klang das nicht, nicht mal nach eingeübter Freundlichkeit eines Empfangsmenschen, der dafür bezahlt wurde, wenigstens halbwegs höflich zu sein.

 

„Holly Winkler“, sagte Holly. „Ich soll ab heute hier arbeiten.“ „Okay“, kam es zurück, und gleich darauf ertönte der Summer. Holly drückte die Tür auf und betrat den Hausflur, der irgendwie düster wirkte. Auf der rechten Seite an der Wand sah sie ein Firmenverzeichnis, eine Plexiglasscheibe mit den Namen der Firmen, die hier residierten. Das Callcenter, ein Übersetzungsbüro, eine Agentur, die sich nicht darüber ausließ, wen oder was sie vermittelte, irgendwelche Handelsgesellschaften, die Holly nichts sagten. Viel Wert auf einen repräsentativen Empfang schienen sie alle nicht zu legen, die meisten Namen waren nur auf Papier gedruckt und aufgeklebt, genau wie an der Tür.

 

Auf einer schmalen Treppe stieg Holly hoch in den zweiten Stock, in dem Schmitz & Kolke ihre Büros hatten. Vor der Tür, die nur angelehnt war, atmete sie noch einmal tief durch, dann trat sie ein.

 

In einem schmucklosen Vorraum saß ein junger Mann in einem schlabbrigen T-Shirt an einem Schreibtisch. „Frau Winkler?“, vergewisserte er sich, ohne wirklich aufzusehen. Holly nickte. „Haben Sie den Vertrag dabei?“, fragte der Mann. Holly reichte ihm das Papier, er überflog es und nickte. Mit einem unleserlichen Krakel unterschrieb er beide Exemplare, reichte eins an Holly zurück und legte das andere auf einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.

 

Es war der erste Arbeitsvertrag, den Holly je unterschrieben hatte. Sie war sechzehn und wollte sich etwas Geld dazuverdienen. Den Entschluss hatte sie kurzfristig gefasst, sie hatte zufällig die kleine Notiz gesehen, als sie das kostenlose Werbeblättchen aus dem Briefkasten geholt hatte, das wöchentlich in der Stadt verteilt wurde. Es war ihr gerade recht gekommen, denn in der Kasse herrschte Ebbe, nachdem sie die Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern und die beiden jüngeren Geschwister gekauft hatte. Jede Woche drei oder vier Stunden, hatte sie sich ausgerechnet, würden ja schon reichen, um bis zum nächsten Taschengeld über die Runden zu kommen. Vielleicht würde sogar etwas mehr rausspringen, als sie für die Geschenke ausgegeben hatte. Besondere Qualifikationen waren auch nicht gefordert, nur fließend Deutsch mussten die Bewerber sprechen.

 

Ihre Eltern hatten auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, und so hatte sie die angegebene Telefonnummer angerufen. Es war erstaunlich schnell und einfach gegangen, nach nicht einmal zehn Minuten hatte es geheißen, dass sie gleich am nächsten Tag anfangen könnte. Den Vertrag hatte sie per E-Mail zugeschickt bekommen, mit der Aufforderung, zwei Exemplare auszudrucken und zu unterschreiben.

 

Nun stand also ihr erster Arbeitstag an, am Donnerstag vor dem zweiten Advent. „Kundenberatung“ war ihr Job überschrieben, ganz genau wusste sie selbst noch nicht, worum es dabei gehen sollte. Schmitz & Kolke warben damit, für verschiedene Auftraggeber zu arbeiten und so den Callcenteragenten immer wieder neue, spannende Aufgaben zu bieten.

 

Der Mann hinter dem Schreibtisch gab irgendwas in seinen Computer ein, dann stand er auf und bedeutete Holly mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Freundlich war irgendwie anders, so wirklich willkommen fühlte Holly sich bis jetzt nicht. Sie hatte nicht vor, bei Schmitz & Kolke alt zu werden, es war ein Nebenjob, den sie vielleicht nur ein paar Wochen oder Monate machen würde, aber trotzdem. Der Mann hatte sich ja noch nicht mal vorgestellt!

 

Er führte sie in einen Raum, in dem mindestens zwanzig Agenten und Agentinnen saßen. Die Mehrheit waren Frauen, junge und ältere; die wenigen Männer dagegen waren durchweg jung, sicherlich keiner über Mitte zwanzig. Alle telefonierten, aber Holly verstand kein Wort, weil die Stimmen sich gegenseitig überlagerten.

 

Sie wurde nach rechts geführt, zu einem Tisch in der Ecke. Dort saß eine Frau, die Holly auf Mitte vierzig schätzte, sie war schmal und etwas blass im Gesicht. Sie hatte ein Headset auf und war gerade im Gespräch, von dem Holly aber nur ein paar Wortfetzen aufschnappen konnte. Den wichtigsten Teil schien sie verpasst zu haben, die Frau leitete die Verabschiedung ein. Es hörte sich so an, als hätte ihr Gesprächspartner sich dagegen entschieden, ihrem Rat zu folgen, aber um das ernsthaft zu beurteilen, fehlte Holly das Hintergrundwissen.

 

Der Mann, der sie in Empfang genommen hatte, wartete, bis die Frau das Gespräch beendet hatte und aufschaute. „Sie ist neu“, stellte er Holly dann äußerst knapp vor. „Kümmere dich um sie!“ Die Frau nickte nur.

 

„Hol dir mal den Stuhl da rüber!“, sagte sie, als der Mann weg war, und deutete auf die Reihe mit Telefonarbeitsplätzen vor ihr. Dort waren am Ende der Reihe zwei Plätze frei, und Holly zog sich wie geheißen einen der beiden Stühle heran. „Okay“, sagte die Frau zufrieden. „Ich bin übrigens Magda. Und wie heißt du?“ Holly nannte ebenfalls ihren Namen. „Hast du so was schon mal gemacht?“, wollte Magda wissen. Holly schüttelte den Kopf. „Ist mein erster Job“, gab sie ehrlich zu. Halb und halb richtete sich darauf ein, dass Magda im Geiste die Augen verdrehen würde, weil man ihr eine völlige Anfängerin geschickt hatte. Aber einmal musste man schließlich anfangen, und der, mit dem sie am Vortag telefoniert hatte, meinte ja offenbar, dass sie den Job konnte.

 

Zum Glück wirkte Magda nicht genervt. „Macht nichts“, sagte sie und lächelte. „Was du hier brauchst, lernst du schnell. Hier, schau!“ Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem eine Liste mit Namen und Telefonnummern angezeigt wurde. Das waren die Leute, die angerufen werden sollten. „Die gehst du einfach der Reihe nach durch“, erklärte Magda. Sie zeigte Holly die Schaltfläche, die das Programm direkt mit der Telefonsoftware verband. „Wir haben eine Liste mit Fragen und Antworten, ich hab sie immer in einem zweiten Tab offen“, fuhr sie fort. „Du kannst aber auch zu Frank gehen und ihm sagen, er soll sie dir ausdrucken, dann brauchst du nicht hin und her zu klicken.“ „Ist das der, der…?“ Etwas unsicher schaute Holly zur Tür, die zum Vorraum führte. Magda nickte. „Er ist der Geschäftsführer hier. Dass er nicht viel redet, hast du wahrscheinlich schon gemerkt. Nimm’s dir nicht zu Herzen, das ist nichts Persönliches.“

 

Das machte ihn Holly nicht unbedingt sympathischer, nahm ihr aber wenigstens die Sorge, sie könnte schon beim Reinkommen etwas falsch gemacht haben. Sie nickte, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und hörte weiter zu. Magda zeigte ihr, wie sie die detaillierten Daten zu den Leuten in der Liste aufrufen konnte, und was sie aufnehmen musste, wenn sie einen Verkauf abschloss.

 

„Na ja, am besten hörst du einfach erst mal zu“, schloss Magda. „Hier.“ Sie reichte Holly ein Headset, das neben ihrem an den PC angeschlossen war. Offenbar war sie nicht zufällig dafür ausgewählt worden, Holly einzuarbeiten, und ihr Arbeitsplatz war dafür eingerichtet.

 

Sie wählte den obersten Eintrag in der Liste aus und klickte auf den Button mit dem Telefonhörer. Dreimal war das Rufzeichen zu hören, dann wurde am anderen Ende abgenommen, und eine Frauenstimme meldete sich. „Guten Tag, Frau Wiedener“, begrüßte Magda sie freundlich. „Hier spricht Magda Schneider vom Schutzverband Versicherung und Vorsorge. Wir befassen uns derzeit verstärkt mit Haftpflichtversicherungen und prüfen, ob Beiträge und Deckungssumme in einem gesunden Verhältnis stehen. Darf ich fragen, bei wem Sie haftpflichtversichert sind?“

 

Die Frau am anderen Ende der Leitung, anscheinend einigermaßen überrumpelt, nannte den Namen des Versicherungsunternehmens und anschließend auch die Höhe der Beiträge, die sie und ihr Mann bezahlten. „Die Deckungssumme wissen Sie nicht?“, hakte Magda nach, doch dafür hätte Frau Wiedener den Vertrag raussuchen müssen. Sie schätzte aber, dass es drei oder vier Millionen Euro waren. „Bei Beiträgen in der Höhe sollten mindestens 10 bis 12 Millionen abgedeckt sein“, behauptete Magda. Gleichzeitig zeigte sie als Hinweis für Holly auf den Fragenkatalog, der in einer Baumansicht angeordnet war. „Das passt so nicht. Wenn Ihnen die Deckungssumme reicht, dann suche ich Ihnen einen anderen Tarif bei einem unserer Partner raus. Oder Sie bleiben mit den Beiträgen in dem Bereich, dann finde ich eine höhere Deckung, das wäre auch eine Alternative.“

 

Holly begriff, wie blauäugig, sie an die Sache herangegangen war. Von wegen und Kundenberatung! Hier ging es einzig und allein darum, den Leuten Versicherungen zu verkaufen, und ob das immer die günstigsten waren, wagte sie zu bezweifeln. Es waren die des Auftraggebers, Punkt.

 

Frau Wiedener erklärte, dass sie so eine Entscheidung nur zusammen mit ihrem Mann treffen wollte, der allerdings nicht zu Hause war. Holly war sich nicht sicher, ob das nur eine Ausrede war, Magda ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt. Sie verabschiedete sich freundlich, nachdem sie immerhin die Zusage bekommen hatte, dass sie am nächsten Tag noch mal anrufen durfte.

 

„Ich lege sie auf Wiedervorlage“, erklärte sie Holly, während sie den Eintrag im Computer vornahm. „Aber wahrscheinlich wird es nichts. Im Lauf der Zeit lernt man, das einzuschätzen.“

 

Noch ehe Holly eine Frage stellen konnte, wählte sie die nächste Nummer aus der Liste. Diesmal dauerte das Gespräch nicht lange, die Angerufene, eine Frau Hegge, sagte, sie würde sich nichts aufquatschen lassen, und legte auf. Magda nahm es achselzuckend zur Kenntnis und setzte einen Haken im Programm, der besagte, dass die Nummer nicht mehr angerufen zu werden brauchte. „Okay, nächster“, sagte sie. „Und danach bist du dran.“

 

Holly wusste nicht, ob sie dafür schon bereit war, aber Magda schob ihr zwei Minuten später einfach die Maus hin. Mit klopfendem Herzen schob Holly den Cursor über den Anruf-Button hinter der nächsten Nummer, eine Frau Bäcker diesmal. Ihr fiel auf, dass überhaupt deutlich überproportional viele Frauen in der Liste standen – glaubten die Chefs, dass Frauen leichter zu überreden waren, eine Versicherung abzuschließen?

 

Fast hoffte sie, Frau Bäcker würde nicht abnehmen, aber nach dem zweiten Klingeln knackte es in der Leitung. „Marie Bäcker“, meldete sich eine Stimme, die sehr jung klang. „Guten Tag, Frau Bäcker“, grüßte Holly. „Ich bin…“ Sie wiederholte das Sprüchlein vom Schutzverband und kam sich bescheuert vor dabei. „Ach, Sie wollen bestimmt mit meiner Mama sprechen“, kam die Antwort. „Mama!“ Holly zuckte unwillkürlich zusammen, weil das Mädchen am anderen Ende plötzlich die Stimme hob. Entweder war die Mutter schwerhörig oder am anderen Ende eines riesigen Gartens, sonst hätte es diese Lautstärke nicht gebraucht. „Sie kommt“, erklärte Marie, dann polterte der Hörer auf eine harte Unterlage.

 

Es dauerte ein paar Sekunden, und die Mutter war ziemlich außer Atem, als sie den Hörer aufnahm. Offenbar war sie tatsächlich ein Stück vom Telefon entfernt gewesen. Holly wiederholte die vorgegebene Einleitung und wurde direkt unterbrochen. „Und dafür renne ich ans Telefon?“, schimpfte Frau Bäcker. „Danke, den Anruf hätten Sie sich sparen können.“ „Okay“, sagte Holly spontan. „Aber schimpfen Sie nicht mit Marie, sie konnte nicht wissen…“

 

Zu ihrer Überraschung wurde Frau Bäcker gleich eine ganze Ecke ruhiger. „Bestimmt nicht“, versicherte sie. „Tut mir leid, Sie machen ja auch nur ihren Job.“

 

Holly bedankte sich für das Verständnis und legte auf. Irgendwie war sie enttäuscht, das war mal überhaupt nicht so gelaufen wie geplant. Auf der anderen Seite fand sie, dass sie die Situation am Ende gut gelöst hatte, und Frau Bäcker war ja auch gleich freundlicher geworden. Aber was würde Magda dazu sagen?

 

„Pech“, sagte sie schlicht. „Aber mach dir nichts draus. Es heißt immer, wenn du gut bist, dann kannst du mit den Provisionen richtig viel Geld verdienen, aber ich kenne keinen, der dabei reich geworden ist. Manche schaffen es, dass sie regelmäßig drei oder vier Abschlüsse in einer Stunde machen, andere nur einen oder zwei. So ist das Geschäft. Und du fängst ja gerade erst an, also Kopf hoch!“

 

Zu ihrer eigenen Überraschung war Holly damit in die „freie Wildbahn“ entlassen. Magda, die offenbar das volle Vertrauen genoss, wenn es darum ging, die Neuen einzuarbeiten, wies ihr einen Platz am Fenster zu. „Da bist du nicht ganz so im Trubel“, sagte sie. „Irgendwann ist man so drin, dass man die anderen gar nicht mehr hört, aber für den Anfang kann’s nicht schaden, wenn dir keiner direkt auf der Pelle hockt.“

 

Holly bedankte sich, stellte den Stuhl zurück und schlängelte sich an den anderen Arbeitsplätzen vorbei zum Fenster. Der Computer war bereits eingeschaltet, verlangte aber einen Benutzernamen und ein Passwort. Hilfesuchend schaute sie zu Magda, aber die telefonierte schon wieder. Notgedrungen fragte sie den jungen Mann zwei Tische weiter, der entweder einen Schwerhörigen am anderen Ende der Leitung oder nicht verstanden hatte, dass seine Stimme über das Telefon auch bei normaler Lautstärke ankam. Immerhin konnte er ihr helfen, die Anmeldedaten folgten einem festgelegten Schema. Besonders sicher war das dann natürlich nicht, weil sich so jeder ziemlich mühelos mit einem fremden Account einloggen konnte. Überrascht war Holly nicht, ihr war längst klar, dass sie in einem alles andere als seriösen Laden gelandet war.

 

Sie loggte sich ein, startete den Browser und rief die Kundenliste auf, die als Lesezeichen hinterlegt war. Alma Schrader war der erste Eintrag in der Liste, ein Blick in die Details verriet Holly, dass die Dame schon auf die Achtzig zuging. Der Ortsname sagte ihr nichts, der hohen Postleitzahl nach musste der Ort aber irgendwo in Süddeutschland liegen.

 

Es klingelte und klingelte, in Gedanken zählte Holly mit. Mehr als fünf-, sechsmal sollte sie es nicht klingeln lassen, hatte Magda ihr mit auf den Weg gegeben. Es lohnte sich nicht, meinte sie, wenn die Leute so lange brauchten, um ans Telefon zu gehen, dann waren sie meist nicht in der Stimmung, sich um ihre Versicherungen zu kümmern.

 

Zögernd schob sie den Cursor über den Button zum Beenden des Anrufs. Das siebte Klingeln, sie wollte gerade klicken, als das Leitungsgeräusch sich veränderte. „Ja?“, fragte eine dünne Stimme. Sie klang außer Atem, und irgendwie spürte Holly, dass der Weg ans Telefon der alten Dame schwergefallen war.

 

Fast schämte sie sich dafür, und sie musste sich zusammenreißen, um die vorgegebene Begrüßung zu erzählen. „Oh, das tut mir leid“, antwortete Frau Schrader. „Aber um die Versicherungen kümmert sich meine Tochter. Wissen Sie, sie macht das alles am Computer, mit Internet, das geht so schnell bei ihr, da komme ich gar nicht mehr mit. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Nummer, aber ich weiß nicht, ob Sie sie jetzt erreichen. Sie arbeitet, wissen Sie, und vor halb fünf ist sie fast nie zu Hause. Manchmal holt sie auf dem Rückweg auch die Kinder vom Hort ab, vor allem, wenn das Wetter schlecht ist, dann wird’s auch oft fünf. Die beiden“, damit waren offenbar ihre Enkel gemeint, „wollen oft gar nicht mit, sie haben so viele Freunde im Hort, und wenn sie dann spielen…“ „Das kann ich verstehen“, antwortete Holly spontan. „Ich war genauso. Ich war zwar nicht im Hort, aber wenn ich mit meiner Freundin gespielt hab, hab ich auch immer die Zeit vergessen.“ Verflixt, warum erzählte sie das einer Frau, die ihr völlig fremd war? Das Gespräch war ihr komplett aus der Hand geglitten, aber sie wusste nicht, wie sie wieder zum Thema kommen sollte, und irgendwie wollte sie es auch gar nicht. „Wissen Sie, es ist ja gut, wenn Kinder jemanden zum Spielen haben“, erzählte Frau Schrader weiter. „Die Enkelin von meiner Nachbarin zum Beispiel, die sitzt immer nur zu Hause.“ „Na ja, vielleicht liest sie lieber, oder bastelt“, wandte Holly ein. „Ja, das glaube ich auch“, pflichtete die alte Dame ihr bei. „Aber sie muss doch auch mal unter Leute kommen!“ „Ja, schon“; gab Holly zu. „Gehen Ihre Enkel viel raus?“

 

„Was machst’n da?“, wurde sie im selben Moment von der Seite angeraunzt. Es war der Typ, der ihr schon aufgefallen war, weil er so brüllte. „Wenn sie nicht kauft, dann schieß sie ab! In der Zeit hättest du schon zwei andere klarmachen können!“

 

Hastig hielt Holly das Mikrofon an ihrem Headset zu. Am liebsten hätte sie zurückgebrüllt, aber sie hatte keine Lust, dass alle sie angafften. „Lassen Sie das meine Sorge sein“, gab sie stattdessen kühl zurück. Ganz bewusst blieb sie beim Sie. „Schnappen Sie sich ruhig die zwei oder drei“, sie betonte die Worte sarkastisch, „und machen Sie sie klar. Da müssten Sie sich doch freuen, dass Sie dran verdienen, dass ich nicht so abgebrüht bin wie Sie.“

 

Der Typ verzog das Gesicht. „Du musst’s wissen!“, gab er trotzig zurück. Dann wandte er sich wieder seinem Computer zu und startete den nächsten Anruf. „Armleuchter!“, dachte Holly noch, dann kümmerte sie sich wieder um ihre betagte Gesprächspartnerin. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, „ein Kollege brauchte schnell was.“ Das war nicht mal gelogen, ging es ihr durch den Kopf, der Typ hatte tatsächlich etwas gebraucht und bekommen, nämlich eine deutliche Ansage. „Jetzt bin ich wieder bei Ihnen.“ „Haben Sie sehr viel zu tun?“, wollte Frau Schrader wissen. „Ich will Sie nicht zu lange aufhalten.“ „Tun Sie nicht“, versicherte Holly. Ihr Chef sah das sicherlich anders, aber das ging ihr sonst wo vorbei. Lange bleiben würde sie in diesem Laden nicht, das stand fest, für den Job war sie anscheinend zu zart besaitet; als Makel empfand sie das nicht. „Wir hatten gerade von Ihren Enkeln gesprochen“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.

 

„Ja, Sascha und Sarah“, ging Frau Schrader direkt darauf ein. Holly erfuhr, dass die beiden mit ihren Eltern in der Nähe von Koblenz lebten und noch zur Grundschule gingen. Man hörte, dass die alte Dame die Kinder liebte, auch wenn sie sie viel zu selten sah. Es waren über 300 Kilometer zu fahren, doch Frau Schrader fuhr seit fünf Jahren kein Auto mehr, weil die Augen nicht mehr so gut waren. Auch mit dem Zug traute sie sich die Reise nicht zu, und leider hatte ihre Tochter nicht oft Zeit, mit ihrer Familie zu Besuch zu kommen.

 

Auf Hollys Bildschirm blinkte ein Signal auf, der Computer war der Meinung, sie hätte sich zu lange mit einem potenziellen Kunden befasst. Sie sollte entweder innerhalb der nächsten zwei Minuten zum Abschluss kommen oder das Gespräch abbrechen, wurde ihr nahegelegt. Holly klickte die Meldung weg, kopierte sich aber sicherheitshalber Frau Schraders Telefonnummer, für den Fall, dass das System ungefragt die Verbindung unterbrach und den Eintrag aus der Liste tilgte.

 

Dabei hörte sie weiter zu, und sie wusste selbst nicht recht, warum sie sich darauf einließ. War es Mitleid? So fühlte es sich nicht an, obwohl sie natürlich begriffen hatte, dass Frau Schrader einsam war und vielleicht lange niemanden mehr zum Reden gehabt hatte. Die betagte Dame hatte einfach eine warmherzige Art, die es leicht machte, ihr gern zuzuhören, und Holly erzählten im Gegenzug auch von sich. Sie wusste, dass das so ziemlich das Letzte war, was man als Callcenteragentin tun sollte, aber diese Rolle hatte sie längst abgelegt. Sollte der Typ neben ihr den Kopf schütteln, und dass sie nun keine Provisionen einstrich – geschenkt! Wahrscheinlich hätte sie es ohnehin nicht geschafft, irgendjemandem eine Versicherung aufzuschwatzen, und wenn doch, dann hätte sie sich in Grund und Boden geschämt.

 

Als sie schließlich auflegte, weil Frau Schrader dringend etwas trinken musste, zeigte ihre Software eine Gesprächsdauer von etwas mehr als zwei Stunden an. Egal, sie trauerte weder der Zeit nach, noch dem Geld, was ihr vielleicht entgangen war. Zwar hatte sie sich um den Job beworben, um ihr Taschengeld aufzubessern, aber das war über das Gespräch mit der alten Dame in den Hintergrund gerückt.

 

Das entging wohl auch dem Nachbarn mit der zu lauten Stimme nicht, und er schien zu den Menschen zu gehören, die es anderen nicht gönnten, glücklich zu sein. „Du sollst zum Chef“, verkündete er, kaum dass Holly sich verabschiedet hatte. „Er ist ziemlich sauer. So frech wie du war hier noch keine.“

 

Holly zuckte mit den Schultern und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Stattdessen schlängelte sie sich zu Magda durch, von ihr wollte sie sich auf jeden Fall verabschieden. Magda schien Bescheid zu wissen, denn in ihrem Blick lag Mitleid, als sie aufschaute. „Danke fürs Einarbeiten“, sagte Holly. „War aber leider umsonst. Der Job ist nichts für mich, und ich schätze, ich brauche nicht mal zu kündigen.“ „Frank ist ultrasauer“, bestätigte Magda. „Am besten schaltest du auf Durchzug. Und nimm’s dir nicht zu Herzen, dass es hier nicht geklappt hat, den Job kann wirklich nicht jeder.“ „Machst du ihn gerne?“, wollte Holly wissen. „Na ja, geht so“, antwortete Magda vorsichtig. „Manchmal hat man schon nette Leute am Telefon. Aber wenn ich wählen könnte… Eigentlich hab ich Drogistin gelernt, aber da ist im Moment nichts zu kriegen. Nicht, wenn du allein bist und zwei Kinder hast. Egal, das soll dich nicht belasten. Du hast die ganze Zeit mit einer alten Frau telefoniert, oder? Einer, die sonst keinen zum Reden hat?“ Holly nickte und wurde leicht rot. „Finde ich toll“, lobte Magda. „Beim manchen denke ich mir auch, ich müsste etwas mehr Zeit für sie haben. Du machst es einfach, das ist toll. Versprich mir, dass du so bleibst!“ „Ich versuch’s.“ Holly lächelte verlegen. „Aber ich hab gar nicht drüber nachgedacht.“

 

Es war gut, dass sie noch mit Magda gesprochen hatte, denn es gab ihr irgendwie das Gefühl, dem Geschäftsführer nicht allein gegenüberzustehen, obwohl er sogar die Zwischentür zumachte. Mit unbewegter Miene hörte sie sich seine Tirade an, allerdings nicht für lange. „Machen wir’s kurz!“, unterbrach sie ihn nach drei Sätzen, die wenig Substanz und viele Kraftausdrücke enthielten. „Der Job ist nichts für mich, das hab ich gleich gemerkt. Muss ich noch was unterschreiben? Sonst gehe ich jetzt.“

 

Frank schnaubte, klaubte einen Zettel vom Schreibtisch und schleuderte ihn ihr entgegen: die fristlose Kündigung, die er natürlich längst geschrieben hatte. Holly stopfte sie in die Tasche, ohne darauf zu achten, dass sie nicht verknitterte. „Dann verschwinde!“, knurrte Frank. „Ich werde dir den Lohn für die zwei Stunden überweisen. Ist billiger als die Zeit, die draufgeht, wenn ich begründen muss, warum ich’s nicht tue.“

 

Damit war Holly entlassen, in des Wortes doppelter Bedeutung. Frank ließ sich auf seinen Stuhl fallen und würdigte sie keines Blickes mehr. Deshalb entging ihm auch, dass Holly sein Büro nicht etwa geknickt, sondern erhobenen Hauptes verließ. Okay, ihr erster Job war eine Niete gewesen, das konnte passieren. Trotzdem nahm sie etwas mit: die Erfahrung, die sicherlich irgendwann noch mal nützlich sein würde – und die Adresse von Frau Schrader, die sich bestimmt über einen langen, ehrlich gern geschriebenen Brief zu Weihnachten freuen würde.

Cover der Kurzgeschichte Wie man Frohe Weihnachten verkauft